Q11/12: Lektionen während der Schulschließung
März 2020



Mo. 16.03.2020


Hausaufgabe

Protagoras-FragmenteGenau lesen und, wie immer, die griechischen Begriffe der Hauptthesen beherrschen.
Dokument Die Sophisten Lesen bis inkl. Protagoras-Darstellung
Diese Darstel-lung hier untenLesen und mit den Inhalten vertraut machen
Schriftlich erstellenBegründen Sie kurz, dass es auf protagoreischen Grundlagen ruht, wenn eine kleine Gruppe Demonstranten skandiert: „Wir sind das Volk.“

Stoff

Es geht nun um die Sophisten. Was Sophisten sind und welche die Berühmtesten sind, können Sie auf der folgenden Seite sehen:

Protagoras: Leben

Die Lebensdaten des Protagoras sind nicht bekannt. Man nimmt an, dass er um 490 v. Chr. geboren wurde und um 411 v. Chr. gestorben ist. Während seiner Aufenthalte in Athen setzte sich Protagoras vermutlich für Perikles ein, von dem er in der Folge beauftragt wurde, die Gesetze der neugegründeten Stadt Thurioi (in Sizilien, am Golf von Tarent) zu entwerfen. Er soll 411 v. Chr. infolge eines Asebieprozesses aus Athen verbannt worden sein, daraufhin nach Sizilien abgereist und bei der Überfahrt ertrunken sein.

Protagoras: Lehre

Es gibt drei berühmte Aussagen des Protagoras. Diese seien im Folgenden kurz dargestellt.

1. Homo-mensura-Satz

vgl. Protagoras, Fragment B1 (D.-K.)

Πάντων χρημάτων μέτρον ἐστὶν ἄνθρωπος,
τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστιν,
τῶν δὲ οὐκ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν.
Aller Dinge Maß ist der Mensch,
der seienden, dass sie sind,
der nichtseienden, dass sie nicht sind.

Dieser Satz lässt verschiedene Interpretationen zu. Maßgeblich für uns ist allerdings die Interpretation von Platon, der den Satz so erläutert:

Οὐκοῦν οὕτως πως λέγει, ὡς, οἷα μὲν ἕκαστα ἐμοὶ φαίνεται, τοιαῦτα μὲν ἔστιν ἐμοί, οἷα δὲ σοί, τοιαῦτα δὲ αὖ σοί· ἄνθρωπος δὲ σύ τε κἀγώ; Er meint das also irgendwie so, dass alles, wie es mir erscheint, so auch für mich ist, wie es aber dir erscheint, so auch für dich ist. Ein Mensch bist aber du und bin ich?

Platon nimmt den Satz als Beleg eines totalen Relativismus: Alles sieht immer nur so aus für dich, wie du es wahrnimmst. Ein anderer könnte etwas ganz Anderes wahrnehmen. Was jeder wahrnimmt, das ist für ihn auch wahr. Deshalb ist für Protagoras Wahrheit immer relativ, es gibt für ihn kein allgemeines Kriterium für Wahrheit. Er drückt damit eine der Grundpositionen der Sophistik aus, insofern sie als Gegenbegriff zum sokratisch-platonischen Philosophieren gebraucht wird. Dieser negative Begriff von Sophistik, der bei uns im Schimpfwort „Sophist“ erhalten geblieben ist, lässt kein allgemeines Wahrheitskriterium zu, er verweist immer darauf, dass jedem Menschen jede Sache unterschiedlich erscheinen kann, so dass sie auch für ihn in der Tat unterschiedlich ist. Nur, wenn ich ein unabhängiges Kriterium anerkenne (z. B. die Wahrheit der Ideen oder die Meinung von Experten oder die Übereinstimmung der Mehrheit), kann ich diesem Relativismus entkommen. Die Sophisten benutzten diesen Relativismus, um die Meinung von Autoritäten und Experten für irrelevant zu erklären. Genau dasselbe machen populistische Politiker heute – sie haben diese Technik von den Sophisten gelernt.

2. Satz von den zwei Logoi

vgl. Protagoras, Fragment B6 (D.-K.)

δύο λόγους εἶναι περὶ παντὸς πράγματος ἀντικειμένους ἀλλήλοις. Zwei Reden existierten über jede Sache,
die einander entgegengesetzt sind
.

Wenn zwei Reden zu jeder Sache existieren, dann könnten Sätze von der Art gemeint sein:

Nach dieser Auffassung kann also jeder Sachverhalt sowohl behauptet als auch bestritten werden. Dies steht im Einklang mit der oben dargelegten Interpretation des Homo-mensura-Satzes: Wahrheit ist relativ.

3. Stärkeres und schwächeres Argument

vgl. Protagoras, Fragment B6 (D.-K.)

Τὸν ἥττω ... λόγον κρείττω ποιεῖν. Das schwächere Argument zum stärkeren machen.

Dies beschreibt die Aufgabe des Rhetorikers. Zu beachten ist, dass mit dem Ausdruck schwächeres Argument nicht ein objektiv schwächeres Argument gemeint sein kann; denn etwas Objektives gibt es für Protagoras nicht (siehe Homo-mensura-Satz). Außerdem ist der Ausdruck schwächeres Argument im Sinne von unterlegenes Argument zu verstehen (ἡττάομαι = ich bin unterlegen) und stärkeres Argument im Sinne von überlegenes Argument. Das Stärker und Schwächer bedeutet also Argumente mit mehr oder weniger Unterstützung oder Akzeptanz. Die Akzeptanz eines Arguments kann ich rhetorisch beeinflussen.

4. Götter

vgl. Protagoras, Fragment B4 (D.-K.)

Περὶ μὲν θεῶν οὐκ ἔχω εἰδέναι, οὔθ’ ὡς εἰσὶν οὔθ’ ὡς οὐκ εἰσὶν οὔθ’ ὁποῖοί τινες ἰδέαν. Von den Göttern kann ich nichts erkennen, weder dass es solche gibt, noch dass es keine gibt, noch wie sie von Gestalt sind.

Protagoras behauptet hier, dass er von den Göttern nichts erkennen kann. Das bedeutet, er ist kein Gottesleugner (Atheist), sondern ein Agnostiker (ἀγνοέω nicht kennen, nicht wissen, nicht erkennen – dient als Gegensatz zu γιγνώσκω), also einer, der leugnet, dass Gott erkennbar ist.