Thukydides, Logos epitaphios

(Den Text gr./dt. der Kernstelle (37–41) des λόγος ἐπιτάφιος gibt es hier.)


Gliederung

Die Rede des Perikles auf die Gefallenen des ersten Kriegsjahres lässt sich in acht Abschnitte gliedern:

  1. Schwierigkeiten einer derartigen Rede (2,35) (Inhalt)
  2. Erbe von den Vorfahren und eigene Leistung (2,36) (Inhalt)
  3. Demokratische Verfassung und persönliche Freiheit (2,37) (Inhalt)
  4. Lebensqualität in Athen (2,38) (Inhalt)
  5. Militärische Gepflogenheiten (2,39) (Inhalt)
  6. Das Verhalten im öffentlichen Leben (2,40) (Inhalt)
  7. Athen als Schule Griechenlands (Ἑλλάδος παίδευσις) (2,41) (Inhalt)
  8. Lob auf die Gefallenen, Trost für die Angehörigen (2,42–46) (Inhalt)

Inhalt

  1. Es wäre passender, denen, die ihren Wert durch die Tat bewiesen haben, auch durch Taten und nicht durch Reden zu ehren. Nun hängt die Ehrerweisung den Toten gegenüber von einem einzige Redner ab, der es, selbst wenn er gut spricht, nicht allen recht machen kann, weil jeder Zuhörer etwas anderes erwartet und für wichtig hält. Perikles sieht aber die Notwendigkeit der Tradition und will versuchen, die Erwartungen zu erfüllen. (Thuc. 2,35)

  2. Die Vorfahren haben die Freiheit an jede Generation weitergegeben. Unsere Väter indes haben noch größeres geleistet, weil sie das ganze Reich, das Athen jetzt regiert, dazuerworben haben. Das meiste haben jedoch die jetzigen Bürger ausgebaut und die Stadt zur autarken im Krieg und im Frieden gemacht. Die dazu nötigen Kriege will Perikles beiseitelassen. Darlegen will er indes die Gesinnung, die Verfassung und die Lebensform, die die jetzige Größe Athens ermöglichten. (Thuc. 2,36)

  3. Athen hat eine Verfassung, die nicht andere Städte nachahmt, sondern vielmehr ein Vorbild für andere ist, die mit Namen Volksherrschaft (Demokratie) heißt, weil sie sich auf nicht nur wenige, sondern auf mehrere stützt. In Ansehen stehen immer diejenigen, die sie persönlich durch ihren Einsatz für den Staat auszeichnen, selbst Armut ist kein Hindernis, sich im Staat Anerkennung zu erwerben. Auch sonst ist das lebensbestimmende Prinzip die Freiheit, die im privaten Umfeld genauso gewahrt ist. Gehorsam übt man in Athen allerdings den Beamten gegenüber und den Gesetzen, vor allem den ungeschriebenen und denen, die zum Schutz gegen Unrecht bestehen. (Thuc. 2,37)

  4. Die Athener haben sich mit vielerlei Opfern und Wettkampfspielen die reichhaltigste Abwechslung vom Alltag geschaffen. Ebenso genießt man häusliche Annehmlichkeiten als Ausgleich. Schließlich ist Athen eine Metropole, sodass neben der eigenen Produktion Waren aus der ganzen Welt zur Verfügung stehen. (Thuc. 2,38)

  5. Auch das Militärische ist in Athen anders geregelt (als in Sparta). Ausländern gegenüber übt man Toleranz, es gibt keine Vertreibungen aus Angst vor Spionage. Vielmehr vertraut Athen auf seine eigene Stärke, ohne die Jugend dauerndem militärischen Drill zu unterwerfen. Dabei leistet Athen genauso viel, obwohl es militärisch an den verschiedensten Orten engagiert ist, niemals also die gesamte Macht versammelt hat, während die Spartaner immer nur zusammen mit allen Bundesgenossen in den Krieg ziehen. Und obwohl sich die Athener nicht ständig militärischem Drill unterziehen, sind sie im Ernstfall nicht einen Deut weniger mutig als die im dauernden Kriegslager lebenden Spartaner. (Thuc. 2,39)

  6. Die Athener zeigen lebhaftes Interesse an Kunst und Philosophie, ohne darin ganz aufzugehen und andere (lebenswichtige) Bereiche zu vernachlässigen. Die Teilnahme am politischen Leben wird von jedem ernst genommen, andernfalls wird er als wertlos erachtet. Ausgiebige Beratung und gründliche Debatte über die anstehende Lage stehen in Athen immer vor der Tat. Andernorts wird Mut durch Unwissenheit gefördert, während planende Überlegung zu Zögern führt. Die Athener dagegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie im klaren Bewusstsein der Tatsachen die jeweiligen Gefahren auf sich nehmen. Ebenso ist ihre ethische Grundeinstellung verschieden, weil sie sich Freundschaften durch Vorleistung zu schaffen pflegen, nicht durch Empfangen von Wohltaten. (Thuc. 2,40)

  7. Zusammenfassend lässt sich sagen: Athen ist die Schule Griechenlands (Ἑλλάδος παίδευσις). Die Stadt wird von Gegnern und Untertanen respektiert, die Menschen leben in Urbanität und persönlicher Freiheit. Athen hat sich durch eigene Kraft Zugang zu allen Meeren und Ländern geschaffen und überall Mahnmale ihrer Präsenz hinterlassen, es bedarf keines Homers, um seinen Ruhm zu besingen. Für diese Stadt sind die Gefallenen gestorben, weil sie sie nicht verlieren wollten. Es ist daher für die Überlebenden selbstverständlich, für sie Unannehmlichkeiten zu ertragen. (Thuc. 2,41)

  8. Das Lob Athens sollte zeigen, wofür die Gefallenen gestorben sind, nämlich für etwas, was andere Hellenen nicht besitzen. So stehen Wort und Tat bei ihnen im Einklang. Sie haben Heldenmut bewiesen, die Privatinteressen nicht höher gestellt, den Tod für ruhmvoller angesehen als Flucht und Rettung.
    So wurden sie zu Helden, es ging ihnen um die Größe der Stadt, die sie mit heißer Liebe umfingen. Hervorragenden Männer ist die ganze Erde Grab. Eifert ihnen nach, schaut nicht ängstlich auf die Gefahren des Krieges.
    Die Eltern will Perikles nicht beklagen, sondern trösten. Glück bedeutet nur: entweder ruhmvoll zu sterben oder eine Lebensdauer zu bekommen, um darin glücklich zu sein und zu sterben. Manche Eltern werden neue Kinder zeugen, die gestorbenen werden in Vergessenheit sinken. Niemand kann im Rat mitsprechen (βουλεύεσθαι), wer nicht unter Einsatz seiner Kinder die Gefahr mitträgt. Wer über das Mannesalter hinaus ist, weiß, dass der Rest kurz sein wird. Richtet euch auf am Ruhm eurer Kinder.
    Die anwesenden Söhne werden es schwer haben bei diesen Vorbildern. Selbst bei herausragender Leistung werden sie kaum an den Ruhm der Toten herankommen.
    Ich habe gemäß dem Brauch alles gesagt, was ich für angemessen hielt. Die Stadt wird die Söhne der Gefallenen auf Staatskosten aufziehen bis zum Mannesalter. Nun beklagt eure Angehörigen und geht heim. (Thuc. 2,42ff)

Quellen:
Thuc., 2,35–46