Platon, Phaidon

Einleitung

Ansatzpunkt: Παλαιὸς λόγος:

Wie die Menschen von hier ins Jenseits gekommen sind, so kommen sie auch wieder zurück und entstehen aus den Toten.

Thema des Beweises

ἐκ τῶν ἐναντίων τὰ ἐναντία: Beweis aus den Gegensätzen

Ansatz: Ist es vielleicht notwendig, dass bei Gegensätzen jedes aus dem ihm jeweils direkt Entgegengesetzten entsteht?

1. Schritt: In der Natur und bei allem, was eine γένεσις hat, entstehen komparativische Gegensätze aus­einander.

a1) Kleineres ⟶ Größeres

a2) Größeres ⟶ Kleineres

b) Stärkeres ⟷ Schwächeres
c) Langsameres ⟷ Schnelleres

d) Schlechteres ⟷ Besseres
e) Gerechteres ⟷ Ungerechteres

Schlussfolgerung: Gegesätzliche Zustände entstehen auseinander.

Der Übergang an dieser Stelle von Komparativen auf πράγματα ist logisch nicht gedeckt, weil allgemein „Zustände“ (πράγματα) nicht automatisch die logische Struktur des „mehr“ und „weniger“ von Komparativen haben.
Das ist aber keineswegs eine Schwäche des Arguments von Platon, wie sich im Folgenden zeigt:

2. Schritt: Für den Wechsel der gegensätzlichen Zustände sind zwei Prozesse verant­wortlich.

Beim Größeren und Kleineren heißen sie Vermehrung (αὔξησις, αὐξάνε­σθαι) und Schwinden/Vergehen (φθίσις, φθίνειν).

Verallgemeinerung:
1. Sowohl bei allgemeinen Prozessen (auseinandernehmen – zusammensetzen, warm werden – erkalten)
2. als auch wenn wir für die Prozesse keine Namen haben, gilt notwendig der Sache nach:
Entstehung der Zustände auseinander in jeweils spezifischen Prozessen.

3. Schritt: Übertragung der Erkenntnisse auf den Zielbereich Leben und Tod

a) Parallelisierung des Pärchens Leben – Tod mit dem ähnlichen Wachsein – Schlafen.

Anwendung der Prinzipien von oben:
1. Entstehung der Zustände auseinander.
2. Es laufen zwei unterschiedliche Werdensprozesse zwischen ihnen ab, weil es zwei Zustände sind.

Exemplarische Parallelisierung der Pärchen Wachsein – Schlafen und Lebendsein – Totsein. Parallelisiert werden
– die Zustände als zusammengehörige Pärchen
– die zugrundeliegenden Prozesse.

1. Wechsel der Zustände beim Schlafen/Wachsein:
Schlafen ⟶ Wachsein und Wachsein ⟶ Schlafen

2. Zugrundeliegende Prozesse beim Schlafen/Wachsein für den Wechsel der Zustände:
Einschlafen und Aufwachen

Anwendung auf die Begriffe Leben und Tod:
1a) Lebendsein und Totsein sind zusammengehörige, entgegengesetzte Begriffspaare

1b) Diese beiden Zustände entstehen auseinander:

Zustandswechsel: Lebendsein ⟶ Totsein

Zustandswechsel: Totsein ⟶ Lebendsein

Aus den Toten entstehen das Lebendseiende und die Lebendseienden

Daraus folgt für Sokrates:
Unsere Seelen sind (i. S. v. existieren) im Hades.

Sokrates kommt nun zu den Prozessen:
2a) Der eine Prozess ist Sterben.

Aus der Parallelisierung von Wachsein – Schlafen und Lebendsein – Totsein folgt, dass es auch für den entgegengesetzten Wechsel eine Prozess geben muss:

Also ist der Prozess, der vom Totsein zum Lebendsein führt, das Wiederaufleben.

Damit ist klar: Es gibt genauso einen Prozess, der vom Tod zum Leben führt wie umgekehrt. Das ist ein ausreichender Beweis dafür, dass die Seelen der Gestorbenen irgendwo sein müssen, von wo sie wieder entstehen.