Der Zorn des Achill

Achill, von Agamemnon in seiner Ehre getroff en und damit bis aufs Blut gereizt, steht in einer wahrhaft en Entscheidungssituation (διάνδιχα μερμήριξεν I, 189). Das moderne Rechtsempfinden, das im Falle einer Tötung Agamemnonseine angemessene Relation zwischen erlittenem Unrecht und erteilter Bestrafung nicht gewahrt sieht, unterliegt der Gefahr einer „optischen Täuschung“: Innerhalb der Koordinaten der archaischen Heldenethik, die hier noch fassbar und von Achill durch sein Überlegen bereits überwunden wird, wäre eine Tötung des Agamemnon ethisch zumindest indifferent, wenn nicht sogar gerechtfertigt gewesen.

Trotzdem lassen sich an der Entscheidung des Achill Züge feststellen, die sein Verhalten als Ausdruck eines vorrationalen, mythisch gebundenen Bewusstseins deutlich werden lassen:

  1. Der Dichter stellt die Entscheidung des Achill im Bild einer durch eine metaphysische Instanz (Athene) gelenkte Verhaltensbeeinflussung dar. Achill beruft sich fast resignierend auf ein rational nicht überprüfbares, weil metaphysisch bedingtes χρή als den letzten Grund seiner Entscheidung (I, 216). Dieses χρή wird nicht reflektiert, sondern als Ergebnis tradierten kollektiven Bewusstseins fraglos akzeptiert. Der mythisch Gebundene erweist sich immer wieder als ein Mensch, der nicht fragt.
  2. Der sprachliche Befund (αἴ κε πίϑηαι (I, 207), πείϑεο δ’ ἡμῖν (I, 214), οὐκ πίϑησε (I, 220) ist aufschlussreich, bedeutet doch die Aktivform des Verbums πείθειν „überreden“ und „überzeugen“. „Überreden“ bezeichnet eine Verhaltensbeeinflussung, die ein Verhalten meist um eines außerhalb seiner selbst liegenden Ziels willen anregt, ein inneres Widerstreben des „Überredeten“ ist durchaus denkbar. „Überzeugen“ beschreibt den Vorgang einer auf dem Wege rationaler Argumentation vermittelten Einsicht; der „Überzeugte“ identifiziert sich schließlich mit der Ansicht des Überzeugenden. Der Zusammenhang der ganzen Szene macht klar, dass Athene den Achill – mit dem Hinweis auf τρὶς τόσσα ἀγλαὰ δῶρα – überredet und nicht etwa auf dem Weg der rationalen Darstellung der ethischen Problematik „überzeugt“.
  3. ὧς γὰρ ἄμεινον (I, 217)
    Die Formulierung im Komparativ zeigt zum einen, dass Achill sich mit der Weisung der Athene nicht rückhaltlos identifiziert. Zum anderen wird aus der Formulierung Folgendes deutlich:
    Die Entscheidung des Achill ist keine „sittliche“ Entscheidung im Sinne einer auf eine sittliche Norm bezogenen Entscheidung (entsprechend der sokratisch-platonischen Forderung, dass das sittlich Gute um seiner selbst willen zu tun sei). Eine auf dem Weg der Reflexion erkannte sittliche Norm wäre nämlich kraft ihrer unbedingten Verbindlichkeit schlechthin „gut“ (ἀγαϑόν) oder „am besten“ (ἄριστον). Achill orientiert sich bei seiner Entscheidung pragmatisch, aus tradierten Kollektivmustern des Verhaltens das „Bessere“ auswählend, weil im Stadium des mythisch gebundenen Bewusstseins eine auf dem Wege der Reflexion postulierte (Sokrates!), absolut verbindliche sittlich normative Idee gedanklich noch nicht konzipiert ist.

(Lit.: H. Meyerhöfer: Das Erwachen des kritischen Bewusstseins bei den Griechen, 75–81)