Platons Theorie der Gerechtigkeit in der Politeia

Einbettung

Ausgangspunkt für Platon ist das von Thrasymachos im 1. Buch der Politeia aufgeworfene und von Glaukon und Adeimantos verschärfte Problem, dass die Gerechtigkeit nur deswegen gelobt wird, weil keiner Unrecht leiden will. Wenn er aber in der Lage ist, Unrecht zu tun, dann ist er schnell dabei. Wer in großem Stil Unrecht tut, so dass er sich an die Spitze des Staates stellen kann, wird sogar für gerecht gehalten. Sokrates ist aufgefordert nachzuweisen, dass die Gerechtigkeit vorzuziehen ist, ja dass sogar jeder lieber die Gerechtigkeit wählt anstelle der Ungereichtigkeit, selbst wenn der Ungerechteste, weil seine ungerechten Taten nicht entdeckt werden, als der Gerechteste gilt, während der tatsächlich Gerechte als ungerecht gilt, sogar gefoltert wird und für seine anscheinende Ungerechtigkeit schließlich sogar den Tod erleidet.

Sokrates möchte die Gerechtigkeit, um sie leichter finden zu können, an einem größeren Objekt als dem Menschen untersuchen. Das ist der Staat. So, wie man eine zu kleine Schrift auf Anhieb nicht gut lesen kann, aber wenn dasselbe in großen Buchstaben woanders nochmal geschrieben steht, sehr viel leichter entziffert, so möchte Platon die Gerechtigkeit in Staat (eig. in der πόλις) untersuchen, weil man erwarten kann, sie dort leichter zu finden. Zur Gründung eines Staats bei Platon siehe hier: Platons Staatsgründung

Gerechtigkeit im Staat

Platon stößt bei seinen Überlegungen zur Gründung eines Staates auf drei gesellschaftliche Gruppen, Gattungen (γένη als Plural von τὸ γένος) genannt, die für die Gründung und Erhaltung eines Staats notwendig sind:

  1. Lenker
  2. Wächter
  3. Versorger

Diese drei Gattungen (γένη), oft (und irreführend) als Stände bezeichnet, tun jeweils das Ihrige (τὰ αὑτοῦ πράττειν), wodurch der Staat erhalten wird und gedeiht. Was aber das ist, das Ihrige, das sie tun, geht aus ihren Bezeichnungen hervor, mit denen Platon sie belegt (434c 7–10):

ἐπικουρικός von ἐπίκουρος Aufseher (Lenker, „Lehrstand“)
φυλακικός von φύλαξ Wächter (Wächter, „Wehrstand“)
χρηατιστικός von χρηματιστής Geschäftstreibender (Versorger, „Nährstand“)

Es beschäftigen sich also

  • die ἐπικουρικοί mit allem, was mit der Führung und Organisation des Staats zusammenhängt
  • die φυλακικοί mit allem, was für die Sicherung des Staats nach außen nötig ist
  • die χρηατιστικοί mit allem, was der Versorgung des Staats mit allen notwendigen Mitteln dient

Diesen drei Bevölkerungsgruppen sind nun drei der vier Kardinaltugenden ganz natürlich zugeordnet:

ἐπικουρικοί (Lenker) σοφία (Weisheit)
φυλακικοί (Wächter) ἀνδρεία (Tapferkeit)
χρηατιστικοί (Versorger) σωφροσύνη (Besonnenheit)

Sokrates sagt, dass dasjenige, was übrigbleibt, die Gerechtigkeit sein muss, weil ja die anderen drei Kardinaltugenden identifiziert und zugeordnet wurden. Was er neben den Tätigkeiten der drei gesellschaftlichen Gruppierungen noch findet, ist die Notwendigkeit, dass jede Gruppierung das tut, was sie am besten kann und was also das Ihrige ist. Das identifiziert Sokrates nun als Gerechtigkeit: τὰ αὑτοῦ πράττειν.

Gerechtigkeit im Einzelnen (in der Seele)

Platon postuliert, dass in der Seele auch drei Teile oder Formen oder Gestalten (εἴδη) existieren, ganz ähnlich wie die drei Gruppen im Staat. Er parallelisiert nun (441 d5–11) die drei gesellschaftlichen Gruppen mit diesen drei Zuständen in der Seele:

γένος im Staat ἀρετή εἶδος in der Seele
ἐπικουρικόν γένος (Lenker) σοφία (Weisheit) λογισγτικόν (denkend)
φυλακικόν γένος (Wächter) ἀνδρεία (Tapferkeit) θυμοειδές (mutartig)
χρηματιστικόν γένος (Versorger) σωφροσύνη (Besonnenheit) ἐπιθυμητικόν (begehrend)
τὰ αὑτοῦ πράττειν
(οὐ πολραγμονεῖν)
δικαιοσύνη (Gerechtigkeit) τὰ αὑτοῦ πράττειν
(οὐ πολραγμονεῖν)

Auch in der Seele muss jeder Seelenteil das Seine tun, damit der Mensch gerecht ist.

Besonderheit der Staatslenker

Die Staatslenker, also die ἐπικουρικοί, von Platon auch „Könige“ genannt, müssen über eine besondere Eigenschaft verfügen: Sie müssen zugleich Philosophen sein, weil nur der Philosoph Einblick in das Gute an sich hat. Dieser Einblick in das Gute an sich gewährt die Erkenntnis, was in drer Welt gut ist, weil es Anteil am Guten an sich hat.