Geschichte des Denkens vor Sokrates

Solange sich der Mensch mehr oder weniger hilflos der Natur und ihren Gewalten ausgesetzt fühlte, lautete seine Grundfrage: Warum geschieht alles so, wie es geschieht? Wie kann ich das Geschehen beeinflussen? Wie kann ich das Unvorhersehbare vorhersehen?

Die Antworten darauf fielen in der Geschichte der Menschheit unterschiedlich aus.

Mythische Zeit (die Zeit vor dem 7. Jhdt v. Chr.)

Jedes ungewöhnliche Geschehen in der Welt wurde göttlichem Wirken zugeschrieben. Naturgesetze wurden in einer Art von naivem Realismus zwar angenommen (man brauchte keinen Gott, um zu erklären, dass ein Stein nach unten fällt), sie konnten aber durch Götter jederzeit außer Kraft gesetzt werden.

Das Gelingen oder Misslingen menschlichen Handelns wurde dem Willen der Götter zugeschrieben. Ob etwa ein abgeschossener Pfeil sein Ziel trifft oder nicht, hing letztlich vom Willen eines Gottes oder einer Göttin ab, der oder die dem Schützen oder seinem Ziel gewogen war oder nicht.

Dies ist die Situation der homerischen Helden. Sie waren zudem hauptsächlich dem persönlichen Schicksal ausgesetzt, das von den Moiren Klotho (Κλωθώ, die Spinnerin), Lachesis (Λάχεσις, die Loserin) und Atropos (Ἄτροπος, die Unabwendbare) ihnen bei der Geburt zugedacht („zugesponnen“ – siehe den Begriff Lebensfaden) ist. Ein Gott kann den Menschen nur innerhalb der von den Moiren ihm zugesponnenen Lebenszeit beschützen, er kann aber nicht dessen Leben erwähnenswert verlängern.

Der homerische Mensch kann als Spielball göttlicher Kräfte nur darauf schauen, durch Heldentaten möglichst großen Ruhm für die Nachwelt zu erwerben. Ansonsten besteht seine Lebensaufgabe darin, standesgemäß (d. h. nach der vorherrschenden Adelsethik) zu leben und zu sterben. Wer diesen von der Gesellschaft vorgegebenen Lebensentwurf verfehlt (vgl. Aias), dem bleibt nur der Freitod; denn ein Weiterleben in Schmach ist keine mögliche Option.

Lyrische Zeit (ca. 7./6. Jhdt v. Chr.)

Mit dem Aufkommen der Lyrik ist die Entdeckung des Ichs, der Subjektivität, der Innerlichkeit verbunden. Der Mensch entdeckt, dass er ein Handelnder ist, der Optionen hat. Er beginnt, sich von überkommenen Verhaltens- und Moralvorstellungen zu emanzipieren und seinen Lebensentwurf selbst zu wählen. Die Welt und das Geschehen in ihr wird zwar immer noch von Göttern bestimmt, der Mensch hat sich aber von der Außenwelt und deren Erfordernissen abgewandt, seit er die Innenwelt als wesentlichen Gestaltungsraum des menschlichen Handelns entdeckt hat. Glück, Zufriedenheit, Liebe – das sind die Themen, deren Spielfeld das Innenleben des Menschen ist.

Die ersten Philosophen (6. Jhdt bis Mitte des 5. Jhdts v. Chr.)

Der Beginn der Philosophie in Europa lässt sich genau datieren. Sie setzt ein mit der Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 v. Chr. Warum weiß man das so genau? Thales von Milet soll diese Sonnenfinsternis vorausgesagt haben. Ob er das wirklich mit seinen Mitteln schon konnte, sei mal dahingestellt. Auf jeden Fall zeigt der Vergleich mit den Lydern, über die Herodot schreibt, dass sie durch dieses Phänomen der Sonnenfinsternis in einer Schlacht überrascht wurden und deshalb in Panik gerieten, wie abgeklärt die Ionier damit umgingen.

Thales und überhaupt die ionischen Naturphilosophen begannen nämlich, das, was bisher selbstverständlich war, nämlich dass ein Gott hinter solchen Erscheinungen steckt, nicht mehr selbstverständlich zu nehmen und zu fragen, ob man dafür nicht auch eine naturwissenschaftliche Ursache finden könnte.

So berichtet auch Aristoteles am Anfang seiner Metaphysik:

Denn wegen des Staunens begannen die Menschen sowohl jetzt als auch beim ersten Mal zu philosophieren, indem sie sich anfangs über das zunächstliegende Seltsame wunderten, dann in kleinen Schritten in dieser Weise vorangingen und auch über die größeren Dinge Fragen aufwarfen, wie z. B. die Phasen des Mondes und ihre Beobachtungen hinsichtlich der Sonne und der Gestirne und über die Entstehung von allem. Wer sich aber über eine Sache im Unklaren ist und sich wundert, der glaubt sie nicht zu kennen. (Deshalb ist der Freund der Mythen [sozusagen ein Philomyth] auch in gewisser Weise ein Freund der Weisheit [d. h. ein Philosoph]; denn der Mythos besteht aus Staunenswertem.) Wenn sie daher zu philosophieren begannen, weil sie der Unwissenheit entgehen wollten, so suchten sie das Wissen offenbar wegen des Verstehens, nicht um irgendeines Nutzens willen.

Die ersten Philosophen dieser Art, von denen wir wissen, sind alle aus Milet, weshalb sie die drei Milesier heißen. Es sind Thales, Anaximander und Anaximenes. Alle drei untersuchten Naturphänomene, dachten über das korrekte Weltbild nach (welche Stellung hat die Erde im Kosmos?) und suchten nach einem Urstoff bzw. einem Anfang oder Prinzip alles Seienden (ἀρχὴ τῶν ὄντων). Die Antworten auf die letzte Frage fiel unterschiedlich aus, wie aus der Tabelle ersichtlich:

Philosoph ἀρχή
Thales Wasser
Anaximander ἄπειρον (Unbegrenztes)
Anaximenes Luft

Nach diesen Anfängen gab es auch an anderen Orten Menschen, die sich ähnliche Fragen stellten. Beispiele:

Die anthropologische Wende (Mitte des 5. Jhdts v. Chr.)

Dieser Begriff meint die Veränderung der Fragen, die gestellt wurden. Ging es vorher eben hauptsächlich um τὰ μετέωρα, also um die Himmelserscheinungen, und sonstige Phänomene der Natur, so verlagerte sich das Augenmerk Mitte des 5. Jhdts vor Christus von den Naturerscheinungen auf den Menschen. Sokrates stellte den Menschen und seine Tugend (ἀρετή) in den Mittelpunkt seines Fragens. Daher schreibt auch Cicero später, Sokrates habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde herabgeholt und sie in den Häusern der Menschen heimisch gemacht. Er weist damit auf die Veränderung des Fragens hin.