Was stand am Anfang der europäischen Literatur? Homer, heißt es, die großen Epen des Homer. Aber das ist nicht ganz richtig. Schon in der Antike wusste man, dass es Dichter vor Homer gab, ja Homer selbst bezeugt uns die Existenz solcher Vorgänger, indem er sie in Person auftreten lässt. In der Odyssee sind es professionelle Sänger, ἀοιδοί oder Aöden, wie man sie nennt, die an den Höfen der großen Fürsten mit ihrer Kunst zur geselligen Unterhaltung beitragen und dafür überall Achtung genießen. Da ist der blinde Demodokos bei den Phäaken, und da ist auf Ithaka Phemios. Im Gegensatz zum späteren Homer selbst, der seine Werke ja rezitierte, handelt es sich bei diesen seinen Vorgängern um echte Sänger, die sich mit dem Saitenspiel, der Kithara, begleiten. Und das waren dann natürlich keine ausgewachsenen Epen, wie Ilias und Odyssee, deren Vortrag jeweils drei volle Tage benötigt, es waren kürzere, erzählende Lieder, gerade genug für einen Nachtisch. Es gibt kaum einen Zweifel, dass aus solchen Einzelliedern, Balladen, der vorhomerischen Zeit später durch Homer selbst und andere die großen Epen entstanden sind, die wir heute noch bewundern. Sie ahnen schon, warum ich das erzähle. Unsere beiden preisgekrönten Künstler, der Poet und Komponist Daniel Bruckner und die Sängerin und Malerin Marilena van Elst haben diese Entwicklung wieder rückgängig gemacht, sie haben das Epos Odyssee wieder zurück in eine Ballade verwandelt, in ein Lied zum Gesang, in dem Geschichte und Wesen des Odysseus gedeutet und gewürdigt werden. Hätten Sie dies vor zweitausend Jahren gemacht, wäre es in der Weltsprache Griechisch geschehen, die damals auch Jesus und Kaiser Augustus verstanden hätten. Hätten sie es vor eintausend oder vor fünfhundert Jahren gemacht, hätte es die Weltsprache Latein sein müssen, in der etwa der Schwede Gustav Adolf mit den Münchner Jesuiten disputiert hat. Heute, hélas, heißt die Weltsprache Englisch – die ja doch den meisten, auch wenn sie sich ihrer bedienen müssen, eine Fremdsprache bleibt. Aus der Ballade von den Irrfahrten, Περὶ πλανῶν oder De erroribus wurde so im modernen Gymnasium von Ettal „The Ballad of a Wanderer“. Wobei ich zu meiner Überraschung feststelle, dass mein Lexikon für „wanderer“ nur die Bedeutung „Wandervogel“ notiert. Da wäre Odysseus gar ein Ahnherr der Jugendbewegung. Aber die Musik unserer Ballade klingt nicht nach Jugendbewegung und Zupfgeigenhansel. Wenn mich meine Ohren nicht ganz trügen, ist die Musik dieser ballad stilgerecht als amerikanisches Volkslied, American folk song, gestaltet. Statt der Kithara des Demodokos erklingt die aus dieser entstandene Gitarre, die sich auf wenige Harmonien beschränkt. Der Text ist freirhythmisch, ungleichmäßig gereimt, aber in Verse und in insgesamt sechs Strophen gegliedert, wobei die Melodie der Singstimme variabel an den begleitenden Dreierrhythmus angepasst wird. Die dritte und die fünfte Strophe sind gleichlautend, sie schließen sich refrainartig jeweils pausenlos an und enden auf „He was a wanderer all day and night“, wodurch das Ganze sinnfällig gegliedert wird. Die sechste und letzte Strophe variiert diesen Refrain noch einmal, schließt dann aber ab mit „Odysseus was a hero all his life“. Erst hier fällt sein Name. Penelope, Poseidon und die andern blieben ganz namenlos. Warum war er ein „hero“? Nach der Deutung der Ettaler Aöden zunächst einmal, weil er pflichtgemäß („to follow his duty“) Weib, Kind und Heimat verließ, um für Menelaos, dem er durch Eid verpflichtet war, die schöne Helena wieder zu erobern und zur Rettung der Ehre Griechenlands Troja niederzubrennen („the honor was broken, the fortress has to burn“). Ich nehme an, dass im christlichen Ettal etwas andere Moralgrundsätze gelehrt werden, aber unsere Künstler haben sich hier gut in das Rachedenken der heidnischen Antike eingefühlt. Auch das Niedermetzeln der Freier („his revenge was bloody“) macht ihnen kein Problem. Aber nicht vor allem in der solidarischen Pflichterfüllung, die natürlich in der genialen Erfindung des trojanischen Pferds gipfelt, sehen die Ettaler Künstler das Heldentum des Odysseus, sondern darin, dass er auf dem Höhepunkt gesellschaftlicher Anerkennung sein persönliches Glück nicht vergisst, dass er nach Hause strebt, zu seiner Frau nach Ithaka („home to his wife“), dabei Leiden in Kauf nimmt („to suffer a lot“) und es sogar wagt, Poseidon, dem Gott zu trotzen („to defy the god“). Der American folk song erweist sich gerade hierin als angemessene Form, enthält ja doch diese Klampfenmusik immer etwas von dem alten amerikanischen spirit of the west, der Sehnsucht nach dem Goldenen Westen als einer zukünftigen, besseren Heimat. Der Ettaler Odysseus ist auch ein Westernheld.
[Hier ist der Platz, um den Song anzuhören]
Blicken wir nun auch auf das Gemälde, das diese Deutung sinnfällig unterstreicht. Der linke Bildteil markiert den Zeitpunkt. Noch brennt Troja, so lichterloh, wie das die Acrylfarben nur hergeben. Wobei hübsch ist, dass man das trojanische Pferd, um ein so wichtiges Erinnerungsstück unversengt zu erhalten, aus den Toren der Stadt herausgeschafft hat. Odysseus, noch ganz jugendlich („a brave young man“), stämmig und mit geballten Fäusten, ein Bündel der Energie, richtet seinen Blick nicht mehr zurück, sondern schon in die Ferne, über das Meer hinweg, das er bald zu bestehen haben wird, zu ihr, der Einen, die ihn vor der aufgehenden Sonne, vom grünenden Ithaka her, zu grüßen scheint, noch wie durch Schleier verhangen, nur gerade eine Vision. Greifbarer sind die Gefahren auf dem Weg, die die Malerin als Stationen angeordnet hat. Zunächst der Erzfeind Poseidon, wie ein Meermonster düster drohend mit dem Dreizack. Dann, nur allzu schön, die Frauen, die seinen Weg aufhalten werden. Der mutmaßlichen Reihenfolge nach: Kirke oder Zirze, die schwarze Zauberin, mit angespreizten Armen möglicher Besucher harrend, das Kleid hetärenhaft hochgeschlitzt, so dass ihr schönes Bein bis oben frei liegt. Ebenso reizvoll ist die kastanienbraune Kalypso, die gleich beide Beine sehen lässt. Von ihr, der Göttin, wird Odysseus, bei Homer, bekennen müssen, dass sie noch schöner und größer sei als Penelope – aber die Sehnsucht nach der Gattin („home to his wife“) wird ihn auch von ihr lösen. Jene freilich, die Herrin von Ithaka, braucht ihre physischen Reize nicht spielen zu lassen: Während die Junggesellinnen auf ihren Inseln im farbigen Kostüm prangen, betört sie den Fernen im grauen, madonnenhaft schlichten Umhang. Mit Bedacht wurden hier von der Künstlerin aus den Reisehemmnissen nur Kirke und Kalypso ausgewählt, die andern, wie der Zyklop oder Scylla und Charybdis ausgelassen. Hier war eben die tiefste Versuchung – „but he never forgot his belief“. Malerei, Poesie und Musik, diese drei Künste haben zusammengewirkt, um in einem Gesamtkunstwerk, Triptychon, einen antiken Helden wieder Gestalt werden zu lassen, gut in der Tradition der Benediktiner, bei denen neben dem berühmten Ora et labora immer auch galt: Pange pinge modulare ... Dichte, male, musiziere. Schon die alte Ettaler Ritterakademie im achtzehnten Jahrhundert hat Künstler von europäischem Rang hervorgebracht: den ingeniösen Lateindramatiker Ferdinand Rosner und Placidus von Camerloher, der in Freising ein berühmter Hofkapellmeister wurde (und dem wir Freisinger dort nächsten Sonntag ein ganzes Konzert widmen werden). Aus dem modernen Ettaler Gymnasium sind immerhin zwei geniale musische Spötter, der Dichter Eugen Roth und der Graphiker Ernst Maria Lang, hervorgegangen. Wir freuen uns, dass Daniel Bruckner und Marilena van Elst in guter Ettaler Tradition begonnen haben, in die Spuren so großer Vorgänger zu treten. Wir hoffen, dass ihnen ihr späterer Lebensweg die Möglichkeit lassen wird, ihre musischen Talente weiter zu pflegen und zu fördern – „and not to forget their belief“. Vorerst aber gratulieren wir ihnen sehr herzlich zu dem durch philologische Einfühlung, durch künstlerisches Können und vielseitige Kreativität wohlverdienten Pegalogospreis 2014.
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